A. Würgler: Die Tagsatzung der Eidgenossen

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Title
Die Tagsatzung der Eidgenossen. Politik, Kommunikation und Symbolik einer repräsentativen Institution im europäischen Kontext (1470-1798)


Author(s)
Würgler, Andreas
Series
Frühneuzeit-Forschungen 19
Published
Epfendorf 2013: bibliotheca academica Verlag
Extent
717 S.
Price
€ 68,00
URL
by
Emil Erne

Die Tagsatzung war das wichtigste Gremium der Alten Eidgenossenschaft. Als «Tagsatzung» wurden die Versammlungen von Abgesandten der Kantone zur Beratung gemeinsamer Geschäfte und zur Verwaltung des gemeinsamen Besitzes bezeichnet. Sie garantierte mit ihrer kontinuierlichen Arbeit den inneren Zusammenhalt des komplexen Bündnissystems. Von daher ist es erstaunlich, dass diese Institution in der historischen Forschung bisher nicht eingehend dargestellt worden ist. Zwar wurde die Quellengrundlage als gigantisches Regestenwerk von über 25 000 grossformatigen Seiten schon im 19. Jahrhundert zügig publiziert,1 und keine Arbeit zur älteren Schweizer Geschichte kommt um dieses Phänomen herum. Andreas Würgler spricht denn auch von einer «krassen Disproportionalität zwischen der enormen Quellenmasse und der bescheidenen Forschung» (S. 31). Mit seiner 2005 von der Philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern angenommenen und unter anderen von den Professoren Peter Blickle und André Holenstein unterstützten Habilitationsschrift setzt er nun neue Massstäbe; die vorliegende Publikation ist deren gekürzte, überarbeitete und aktualisierte Fassung.

In der Einleitung, deren etwas pompöser Titel «‹Gott› und die ‹Tagsatzung›» nur auf die zwei ersten Seiten zutrifft, würdigt der Autor kritisch den Forschungsstand, wobei er mehrere Phasen des Interesses an der Tagsatzung feststellt. Die besprochenen Werke betreffen einzelne Epochen oder Teilaspekte oder behandeln die Tagsatzung im Rahmen übergeordneter Zusammenhänge. Aus den Neuansätzen seit den 1980er-Jahren und den Desideraten der neuesten Arbeiten ergeben sich Fragestellung und Methoden für die vorliegende Untersuchung. Die Tagsatzung interessiert hier primär als «repräsentative Institution», «politisches Kommunikationszentrum», «sozialer Treffpunkt» und «symbolisches Ereignis» (S. 51).

Da bisher formulierte Entwicklungsthesen auf unklaren Zahlen oder nur begrenzten Auszählungen beruhten, drängte sich als Erstes eine umfassende quantitative Analyse der Basisdaten auf. Diese stützt sich hauptsächlich auf die sogenannten «Abschiede», nämlich die von der Kanzlei des jeweiligen Tagungsortes ab 1450
ausgefertigten Vereinbarungen, Beschlüsse, Nachrichten und Aufträge, die den Abgeordneten am Sitzungsende jeweils zuhanden ihrer Obrigkeiten mitgegeben wurden. Deren Entstehung und geschichtswissenschaftliche Kritik werden ausführlich erörtert. Punktuell wurde zusätzlich auf die entsprechenden Originalquellen in den Staatsarchiven der Kantone Aargau, Bern, Luzern und Zürich zurückgegriffen. Selbstzeugnisse von Tagsatzungsteilnehmern, Reiseberichte fremder Besucher, Relationen ausländischer Gesandter und bildliche Darstellungen der Tagsatzung ergänzen das Quellenkorpus.

Der eidgenössische «Gesandtenkongress föderal verbundener Republiken» als «Repräsentation […] der Kantone vor den andern Kantonen» (S. 598) und damit vor der Eidgenossenschaft entwickelte sich ohne verfassungsrechtliche Grundlage aus zwischenörtischen Bünden, militärischen Versammlungen und Jahrrechnungskonferenzen zu den Gemeinen Herrschaften und wird ab Mitte des 15. Jahrhunderts als «Tagsatzung» fassbar. Die vorliegende Studie setzt 1470 ein, weil die Sitzungen erst von da an regelmässig dokumentiert und quantitativ zugänglich sind. Das Ende markiert der Untergang der Alten Eidgenossenschaft 1798. Methodisch wird der Gegenstand mit einem «polyperspektivischen Zugang und multikausalen Erklärungs- und Deutungsangeboten» (S. 52) in mehreren Durchgängen untersucht, wobei Wiederholungen in Kauf genommen werden.

Das Buch ist in die Teile I: «Quantitative Analyse», II: «Kulturgeschichte des Politischen» und III: «Europäischer Kontext» gegliedert. Im ersten Teil leistet der Autor einen enormen Arbeitsaufwand, um bisherige, nicht belegte Quantifizierungen zu korrigieren. Die an den Tagsatzungen teilnehmenden «Staaten» (eidgenössische Orte, Zugewandte Orte, europäische Mächte) werden nach den vertraglichen Beziehungen sowie Sitz und Stimme respektive Besuche analysiert und anhand der Teilnahmefrequenzen statistisch ausgewertet. Während bei den gleichberechtigten Orten die Teilnahmedisziplin hoch war, hatten die Zugewandten Orte sehr unterschiedliche Teilnahmerechte. Bezeichnung, Anzahl, Wahlverfahren und Instruktion der eidgenössischen Boten waren in den einzelnen Kantonen verschieden, einheitlich aber rekrutierten sie sich aus den politisch wichtigsten Gremien und aus den führenden Familien. Neben hochrangigen ausländischen Gesandten und den beauftragten Schreibern bevölkerten allerlei Begleitpersonen und Bittsteller bis hinunter zu Bettlern die Tagsatzungen, die durch die beteiligten Akteure ihre innen- wie aussenpolitische Relevanz erhielten.

Bei der Erhebung der Sitzungen folgt Andreas Würgler der aktuellen Institutionensoziologie, wonach Institutionen weniger durch normative Setzung als vielmehr durch periodisch wiederholtes Verhalten entstehen, im vorliegenden Falle also durch regelmässige Sitzungen. Von den Sitzungstypen werden die gemeineidgenössischen Tagsatzungen, die Konferenzen zu den Gemeinen Herrschaften und die konfessionellen Zusammenkünfte in die Abhandlung miteinbezogen, nicht aber die thematischen Sonderkonferenzen (z.B. betreffend Grenzstreitigkeiten) und die Rechts- und Schiedstage. Mit 17 Versammlungen pro Jahr weist die Häufigkeit einen im internationalen Vergleich sehr hohen Durchschnittswert auf; den Maximalwert erreichte das Jahr 1531 mit 60 Sitzungen. Die Tagungsdauer stieg vom 15. ins 18. Jahrhundert von durchschnittlich 6 auf 17 Tage an. Häufigster Tagungsort für alle Sitzungstypen war Luzern (1587 Mal von 5519), nur für die eigentlichen Tagsatzungen Baden (794 Mal von 2008). In Bern, das zwar territorial und bevölkerungsmässig der bedeutendste Ort in der Alten Eidgenossenschaft war, zeremoniell aber nur auf dem zweiten Rang lag hinter Zürich als grösster und ältester Stadt, fanden 71 Konferenzen statt, davon 60 Tagsatzungen. Insgesamt verteilten sich die Zusammenkünfte auf über 110 Orte. Da die Tagsatzung der Eidgenossen nirgends reglementarisch festgehalten ist, kann ihre Bedeutung nur über ihre Tätigkeiten erschlossen werden. Zur Auszählung der behandelten Geschäfte bieten die «Abschiede» eine optimale Arbeitsgrundlage. Sie weisen in den 329 erfassten Jahren insgesamt 64 175 Geschäfte aus, was als Mindestwert anzusehen ist. Diese Fülle analysiert der Autor mit nachvollziehbaren Stichproben aus der «Phase der grössten Dynamik und Gefährdung des politischen Systems» (S. 202) zwischen 1470 und 1600 nach Themen, Initianten von Traktanden und Adressaten von Beschlüssen. Bern tritt auffällig selten in Erscheinung, was sich durch seine Ausrichtung auf die Westpolitik erklärt. Die Tagsatzung als «multifunktionales Gremium» fungierte als «Mediations- und Koordinationsinstanz und insbesondere als Kommunikationsplattform », selten aber als Gesetzgeberin (S. 223). Am Schluss der quantitativen Analyse hält der Verfasser fest, dass es sich unter Berücksichtigung der langfristig zwar abnehmenden Anzahl Sitzungen, aber der gegenläufigen Zunahme der pro Sitzung verhandelten Traktanden entgegen dem in der älteren Literatur behaupteten permanenten Niedergang bei der Tagsatzung und ihren zugehörigen Konferenzen «um die langlebigsten föderativen Institutionen der Weltgeschichte» handeln dürfte (S. 227).

Gegenüber diesem zahlenlastigen ersten Teil, der vor allem die Spezialisten anspricht, wirkt der zweite anschaulicher, nicht zuletzt weil er sich neben den Eidgenössischen Abschieden auf weitere Quellen wie Korrespondenzen, Berichte und Memoiren stützt. Einlässlich werden darin im ersten Kapitel unter anderem der Verlauf der Sitzungen von der Einladung über Vorabsprachen, Unterkunft und Zeremoniell bis zum Abschied − im doppelten Sinn − und die angewendeten Verfahren geschildert wie die Instruktion der Gesandten durch ihre Orte, die ritualisierte «Umfrage» und das «Heimbringen» − die Geschäfte waren stets den entsendenden Gremien zur Entscheidung vorzulegen. Das Mehrheitsprinzip galt nur für die Angelegenheiten der Gemeinen Herrschaften; sonst hatten Entscheide einhellig zu erfolgen, wobei der Mehrheitsdruck Abweichler «vermächtigen» konnte. Ein aufschlussreiches Detail: Die Tagherren reisten meistens zu Pferd an die Sitzungen, was bei den Distanzen und der Häufigkeit vielfach lange Abwesenheiten von zu Hause verursachte. Zu den Hauptfunktionen der Tagsatzung gehörten auch die politische Vermittlung in Konflikten, unter anderem durch das Einsetzen von Schiedsgerichten, und die Behandlung von Bittgesuchen oder «Suppliken
» aller Art.

Was zwischen den eigentlichen Sitzungen zu geschehen pflegte, wird im zweiten Kapitel unter dem Begriff der «Soziabilität» subsumiert: offizielle Gastmähler und Bankette, inoffizielle Einladungen und heimliche Begegnungen, also alle Arten von Kontakten zwischen Tagherren, fremden Gesandten, Agenten, Spionen und wer sich sonst noch vom Ereignis Tagsatzung anlocken liess. Auch Vergnügungen kamen nicht zu kurz: Bälle, Theaterbesuche, Ausflüge und − als Spezialität der Bäderstadt Baden − der Besuch der Thermen, wo auch freizügige Angebote nicht fehlten. All dies waren ideale Gelegenheiten zur Informationsbeschaffung und zum Informationsaustausch neben den frühneuzeitlichen Kanälen wie den «Avvisi» (brieflich erhaltene Nachrichten) und den gedruckten «Neuen Zeitungen».

Auf die Frage, inwiefern die Tagsatzung ein Symbol der Eidgenossenschaft war, geht der Autor im dritten Kapitel ein anhand der Bundesbeschwörungen, die periodisch den Zusammenhalt bestärken sollten, aber nie ohne Querelen über die Bühne gingen und nach 1526 aus konfessioneller Zwietracht blockiert waren, ferner anhand des «Eidgenössischen Grusses», der die Versicherung der gegenseitigen Bundestreue durch die Orte bei der Eröffnung der Tagsatzung beinhaltete und in gewisser Weise die Bundesbeschwörungen ersetzte, und anhand der Wahl der Tagungsorte, unter denen sich gemeinherrschaftliche Kleinstädte durchsetzten (nach Baden im 18. Jahrhundert Frauenfeld). Die Gesuche um Schenkung von Glasfenstern mit den Wappen der Kantone, die von diesen, von Städten, Korporationen und Privaten an die Tagsatzung gerichtet wurden, dokumentieren seit 1500 ein «gesamteidgenössisches Bewusstsein» (S. 440), wobei die blosse Aneinanderreihung der Wappen das Bundessystem am passendsten abbildete.

Der dritte Teil des Buches stellt das Thema in den europäischen Rahmen und befasst sich zunächst mit Texten von Staatstheoretikern des 16., 17. und 18. Jahrhunderts, dann mit publizierten Reiseberichten und schliesslich mit diplomatischen Korrespondenzen und Relationen, welche die Tagsatzung mehr oder weniger ausführlich und unterschiedlich korrekt darstellen. Für die fremden Gesandten war die Tagsatzung wie die Eidgenossenschaft insgesamt ein schwer zu fassendes und aufwendig zu beeinflussendes Phänomen. Von besonderem Interesse ist die Ikonografie. Acht farbige und fünf schwarz-weisse Abbildungen, unter anderem aus Schweizer Chroniken, zeigen Visualisierungen, die auf ihren dokumentarischen Wert hin geprüft werden. Abschliessend wird die Tagsatzung aufgrund der effektiven Tätigkeit mit anderen repräsentativen Versammlungen unter anderem in Frankreich, im Deutschen Reich und in England verglichen. Am stärksten hob sich die Tagsatzung von Ständeversammlungen durch das Selbstversammlungsrecht, die Gleichheit der Mitglieder und die Kompetenzen ab: Aussenpolitik gehörte am häufigsten, Gesetzgebung selten und Steuererhebung nie zu ihrem Tätigkeitsfeld.

Die Studie trägt unzählige Sachverhalte und Geschehnisse rund um die Tagsatzung zusammen und wertet sie umsichtig aus. Vieles wird auch nur kurz angesprochen und in den Anmerkungen ausgeführt und nachgewiesen, was den Lauftext entlastet und flüssiger lesbar macht. Der hohe Detaillierungs- und Differenzierungsgrad verleiht dem Buch den Charakter eines Nachschlagewerks. Angesichts der Materialfülle willkommen sind die Zusammenfassungen, die jedes Kapitel beschliessen. Beeindruckend wirkt die Materialbasis, werden doch neben den einschlägigen Beständen schweizerischer und ausländischer Archive unter den gedruckten Quellen und der Literatur rund 930 Titel aufgeführt. Hingegen hätte eine sorgfältige redaktionelle Durchsicht des Textes einige formale Mängel behoben. Leider sind einzelne Grafiken aufgrund des Drucks schlecht lesbar.

Andreas Würgler dringt tief in seinen Untersuchungsgegenstand ein, und angesichts des Buchumfangs möchte man sagen: er behandelt ihn erschöpfend − wenn man nicht wüsste, dass die historische Forschung nie stehen bleibt. Doch einstweilen gilt: Dieses Buch ist ein Standardwerk für alle, die sich mit der frühneuzeitlichen Schweiz beschäftigen. Die Institution «Tagsatzung» ist der Schlüssel zum Verständnis der Alten Eidgenossenschaft. Die gegenüber der Tagsatzung erhobenen Kritikpunkte wie politische Handlungsunfähigkeit oder föderalistische Zersplitterung, die im Schlusskapitel diskutiert werden, sind eigentlich Rückprojektionen der späteren Nationalhistoriografie. Werden die angeblichen Mängel und Schwächen aus der funktionalen Logik des Ancien Régime und aus den Bedingungen des damaligen eidgenössischen Bündnissystems heraus verstanden, so erscheinen sie vielmehr als konfliktdämpfende und stabilisierende Effekte für das komplexe Ganze. Mediation, Kommunikation, politisches Aushandeln und Herstellen von Konsens werden als Stärken erkennbar. In dieser neuen Sicht ist die Tagsatzung der Eidgenossen als eine Erfolgsgeschichte zu beurteilen.

1 Amtliche Sammlung der ältern eidgenössischen Abschiede [1245−1798], 8 Bände in 22 Teilen, hrsg. auf Anordnung der Bundesbehörden von Bundesarchivar Jakob Kaiser u.a., versch. Bearbeiter, versch. Erscheinungsorte 1856−1886 [= EA 1−8].

Zitierweise:
Emil Erne: Rezension zu: Würgler, Andreas: Die Tagsatzung der Eidgenossen. Politik, Kommunikation und Symbolik einer repräsentativen Institution im europäischen Kontext (1470 – 1798). (Frühneuzeit-Forschungen, Bd. 19). Epfendorf / Neckar: bibliotheca academica Verlag 2013. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 80 Nr. 2, 2018, S. 142-147.

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Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 80 Nr. 2, 2018, S. 142-147.

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